»Auschwitz fängt da an, wo einer sagt oder denkt: ES SIND JA NUR TIERE.« Theodor W. Adorno, Philosoph, Soziologe (* 11. Sept. 1903 † 06. August 1969)

Sonntag, 28. Juni 2015

Warum wir den Griechen unseren Dank schulden (Teil 2)


Fortsetung des gestrigen Beitrags von Henryk Broder :
Quelle: www.welt.de

 
 

Wozu haben wir die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank, den Internationalen Währungsfonds, wozu wählen wir ein Europaparlament, wenn am Ende des Tages die Kanzlerin bestimmt, wo es langgeht? In dem Satz "Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg" steckt ein autoritäres Potenzial, eigentlich schon eine totalitäre Gebrauchsanweisung. Dass der Wille das Einzige ist, worauf es ankommt, davon war auch die deutsche Generalität überzeugt, als sie Ende 1942 allen Verlusten zum Trotz den aussichtslosen Kampf um Stalingrad fortsetzte.

Ebenso die Führung der DDR, die noch im November 1989 nicht wahrhaben wollte, dass sie abgewirtschaftet hatte. Nein, wo ein Wille ist, da ist nicht immer auch ein Weg, es sei denn, er wird mit diktatorischer Härte durchgesetzt. Viel Pathos, viel Hysterie

Wie mit frei gewählten Abgeordneten umgangen wird, die sich dem Machtwort der Kanzlerin widersetzen, das haben soeben drei Mitglieder der CDU-Fraktion anschaulich beschrieben. Sie hatten es gewagt, gegen die Rettungspakete zu stimmen, und wurden daraufhin kaltgestellt.

Es wurde sogar versucht, "die Geschäftsordnung (zu) ändern, damit im Bundestag keine Abweichler ... mehr zum Euro-Thema sprechen können", erinnert sich der Abgeordnete Klaus-Peter Willsch, der sich solche Offenheit nur leisten kann, weil er in seinem Wahlkreis mit über 50 Prozent der Stimmen direkt gewählt wurde.

Es geht derzeit nicht darum, Griechenland zu retten. "Es geht", sagt Claudia Roth, "um das Projekt Europa, unsere europäische Idee", ein höheres virtuelles Gut. Außerdem wäre ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone "ein unkalkulierbares Risiko für die Weltwirtschaft". Mit weniger mag sich die grüne Vizepräsidentin des Bundestages nicht zufrieden geben.

Von einem "unkalkulierbaren" Faktor spricht auch der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, meint aber etwas anderes. Im griechischen Parlament sitze eine Neonazi-Partei, "echte Nazis, richtige Freunde des Führers", die könnten Unruhen anzetteln. Er glaube auch, "dass Griechenland, wenn es nicht mehr im europäischen Verbund wäre, zu einem unkalkulierbaren Partner würde", es könnte sich China oder Russland an den Hals werfen.

Ja, Hysterie gehört zum Handwerk. Wenn der Euro scheitert, scheitert nicht nur Europa, dann wird auch die Akropolis nach Sibirien oder in die Provinz Shandong verlegt. Deswegen muss "das Projekt Europa, unsere europäische Idee" gerettet werden, wie ein Schiff, das in Seenot geraten ist.

Aber es ist nicht Europa, das kieloben treibt, sondern die EU, eine bürokratische Vision von Europa, die den Praxistest nicht bestanden hat. Dafür lebt in ihr der Geist der DDR weiter: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!"

Ein alter Jude sitzt in einem Zug, sagen wir von Limanowa nach Dabrowa in Galizien. Keine lange Strecke, aber es ist ein langsamer Personenzug, der an jeder Station hält. Und jedes Mal bricht der alte Jude in lautes Wehklagen aus. "Allmächtiger, ich bin verloren, was soll ich nur machen ..."

Schließlich erbarmt sich einer der Mitreisenden. "Was haben Sie denn, kann ich Ihnen helfen?" "Mir kann niemand helfen", sagt der alte Jude mit Tränen in den Augen, "ich sitze im falschen Zug, und mit jedem Halt wird die Rückreise länger."

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen